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"Unser Ziel ist die Inklusion"

Rede von Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Arbeit und Soziales, anlässlich der Plenardebatte im Deutschen Bundestag zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention.

Ministerin Frau Von der Leyen hält eine Rede © R. Deischl

  • Anfang: 01.12.2011 11:00 Uhr
  • Ort: Berlin
  • Redner/in: Ursula von der Leyen

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Frau Ferner, ich habe die Kritik im Detail gehört. Aber ich glaube, es gibt auch sehr große Gemeinsamkeiten. Ich möchte zwei, drei Gedanken über diese Gemeinsamkeiten vorwegschicken. Denn das ist auch der zentrale Leitgedanke der UN-Behindertenrechtskonvention, der dieses deutlich formuliert, nämlich die Idee der Inklusion.

Unsere Vision, unser Ziel ist die Inklusion. Wir sind auf dem Weg dorthin, dass wir eines Tages in einer Gesellschaft leben, in der es in Geschäften, auf Straßen, in Hotels, in einer Pizzeria, im Fernsehen, bei der Arbeit, in der Straßenbahn, wo immer wir uns bewegen, Menschen mit unterschiedlichen körperlichen, intellektuellen oder mentalen Voraussetzungen gibt, die mit großer Selbstverständlichkeit ohne Trennung miteinander leben, und dass wir das als selbstverständlich erleben. Das ist der große Gedanke der Inklusion der UN-Behindertenrechtskonvention.

Wir haben den Auftrag, die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen, das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ist Focal Point. Die Bundesregierung hat den Nationalen Aktionsplan auf den Weg gebracht, mit dem wir mit 200 größeren und kleineren Maßnahmen entsprechende Schritte machen. Sie können sie kritisieren und sagen: Das ist zu wenig. Aber die Konvention sagt zu Recht: Alle ‑ also nicht nur die Bundesregierung, sondern auch die Länder, die Kommunen, die Wohlfahrtsverbände und die Wirtschaft ‑ sollen sagen, was sie dazu beitragen, dass wir in einer inklusiven Gesellschaft leben können. Der Gedanke ist, dass jeder erst einmal selber sagt, was er oder sie für eine inklusive Gesellschaft tut, bevor man mit dem Finger auf andere zeigt und sagt: Ihr müsst das tun. Man soll erst einmal selber sagen: Was können wir beitragen?

Ich glaube, das ist ein großartiger Ansatz. Denn es ist viel schwerer zu sagen: „Das tun wir aktiv“, sei es ein Verband, ein Wirtschaftszweig, eine Kommune, die Bundesregierung oder ein einzelnes Bundesland, als zu sagen, was man von anderen fordert. Bisher hat neben der Bundesregierung ein einziges Bundesland einen nationalen Aktionsplan vorgelegt; das ist Rheinland-Pfalz. Andere sind auf dem Weg.

Aber ich freue mich auch, dass mir zum Beispiel einzelne Wohlfahrtseinrichtungen schreiben, die mir den Aktionsplan für ihre Einrichtung zeigen wollen und mit mir darüber ins Gespräch kommen möchten. Das ist das Schneeballsystem. Das ist der große Gedanke der Inklusion, den wir gemeinsam voranbringen wollen.

Das ist auch Ausdruck der Ernsthaftigkeit, der Gewissenhaftigkeit und des Ehrgeizes, mit dem wir an diese Aufgabe herangehen.

Wir alle wissen: Es gibt auch die andere Seite. Wir haben sehr komplexe Strukturen. Wir haben lange auf Sondereinrichtungen, Sonderlösungen und Sonderprogramme gesetzt und eher auseinandergebracht, was eigentlich zusammengehört. Es gibt die berechtigte Sehnsucht nach Unmittelbarkeit, Einfachheit und Authentizität. Das ist, wenn ich es einmal umgekehrt formulieren darf, die Sehnsucht nach einer Gesellschaft, in der weder Familien noch Klassengemeinschaften daran zerbrechen, dass ein behindertes Kind in ihnen lebt, in der ein Unfall mit bleibenden Folgen nicht zwangsläufig den Verlust von Selbstbestimmung und Unabhängigkeit bedeutet, in der in Geschäften der Zugang nicht erst durch eine Verbandsklage erreicht werden kann, in der Menschen in der Bahn völlig unkompliziert von A nach B fahren können, um nur einige Gedanken vornewegzuschicken. Das heißt, wir müssen jetzt konkret in einzelnen, vielleicht kleineren oder auch größeren Schritten den Weg dorthin gehen.

Beispiel Deutsche Bahn: Früher konnten 1,4 Millionen schwerbehinderte Menschen in einem 50-Kilometer-Radius um ihren Wohnort kostenlos mit der Regionalbahn fahren. Für jeden Kilometer darüber hinaus, ab dem 51. Kilometer, mussten sie ein Ticket lösen. Das bedeutet für Menschen, die im Rollstuhl sitzen, oder für Menschen, die blind sind, eine enorme Barriere. Seit September sind diese Grenzen bei der Bahn gefallen; der Nahverkehr ist für Menschen mit schwerer Behinderung in Deutschland unbegrenzt nutzbar.

Ich finde das großartig von der Bahn, und genau diese Form der Unterstützung wünsche ich mir auch in anderen Bereichen.

Beispiel Arbeit: Die Arbeitslosenzahl bei Menschen mit Schwerbehinderung liegt bei knapp 173.000. Vor zwei Jahren waren wir bei 164.000. Im Januar waren wir bei 190.000. Die Zahl ist wieder gesunken, aber wir haben die schon erreichte Schwelle noch nicht unterschritten. Wir wollen besser werden. Wir haben die „Initiative Inklusion“, mit 100 Millionen Euro unterfüttert, auf den Weg gebracht: für 20.000 schwerbehinderte Schülerinnen und Schüler Förderung der Ausbildung, 1.300 betriebliche Ausbildungsplätze zusätzlich, 4.000 neue reguläre Jobs für ältere Schwerbehinderte. Das ist unser Beitrag.

Noch einmal zur Richtigstellung: In den Werkstätten im Reha-Bereich ändert sich für Menschen mit Behinderung gar nichts, Frau Ferner.

Gar nichts ändert sich, es wird gezahlt. Auch bei den arbeitsmarktpolitischen Instrumenten ändert sich für Menschen mit Behinderungen gar nichts. Ich glaube, das sollte man einfach einmal anerkennen.

Beispiel Gesundheit: Nur ca. 10 Prozent der Arztpraxen sind barrierefrei.

Wir als Bundesregierung setzen uns deswegen mit Vertretern des Gesundheitswesens zusammen. Denn für Menschen mit Behinderungen ist die Barrierefreiheit entscheidend, damit sie ihre freie Arztwahl ausüben können; sonst können sie dieses Recht nicht wahrnehmen. Also ist unser Ziel, in den nächsten zehn Jahren eine deutlich erhöhte Zahl an barrierefreien Praxen zu schaffen.

Das zeigt: Der NAP ist ein Motor für Veränderungen, aber kein Gesetzespaket. Diese Debatte zeigt aber auch - da danke ich noch einmal für die Anträge, die ich in ein paar Details unterstütze, in anderen nicht -, dass wir eine große Übereinstimmung bei den Stichworten barrierefreie Arztpraxen, Bildung, Reha, Arbeit und Beschäftigung haben.

Wir haben aber auch eine große Übereinstimmung hinsichtlich des Antrages der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Weiterentwicklung des SGB IX, zur Stärkung des inklusiven Ansatzes. Wir wollen das SGB IX überprüfen. Dazu möchte ich noch einmal sagen: Wir haben eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe, die sehr systematisch an der Veränderung des SGB IX und des SGB XII arbeitet, um einerseits strukturell-inhaltlich die vielen Brüche und Widersprüche zu eliminieren und andererseits das Kostengerüst für unsere gemeinsamen Vorstellungen zu entwickeln. Sie macht eine gute Arbeit und ist fast fertig.

Ich sage an dieser Stelle: Ich wünsche mir schlicht und einfach - da gibt es einen großen Konsens zwischen Bund und Ländern, mit den unterschiedlichsten Parteien und den unterschiedlichsten Interessen dahinter -, dass wir diesen Weg gemeinsam weitergehen. Dazu werde ich meinen Teil beitragen.

Vielen Dank.